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Ethische Herausforderungen der Digitalisierung in der Zahnheilkunde

Aktualisiert: 17. Dez. 2021

Vielleicht ist gerade jetzt, inmitten der Coronakrise, der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, wie viel Digitalisierung wir eigentlich brauchen. Denn auch wenn digitale Ausrüstung ihre Vorteile gerade in unserem „neuen“ Alltag ausspielt und damit auch an das Potenzial erinnert, das sie für den zahnmedizinischen Praxisalltag hat, besitzt sie doch manche Kehrseite, die Medizinethiker Prof. Dominik Groß im folgenden Essay für die Zahnmedizin aufzeigt. Er skizziert zunächst verschiedene ethische Herausforderungen, um die Aufmerksamkeit dann auf ein spezielles Problem zu richten: das Themenfeld „Overtreatment“ und die dahinterstehende „Amortisierungsfalle“.







Derzeit unterliegen der Gesundheitsmarkt und seine Akteure einer „digitalen Revolution“. Wissenschaftliche Publikationen und Aufklärungsschriften zur digitalen Zahnmedizin liegen dementsprechend im Trend. In den meisten Fällen konzentrieren sich diese Arbeiten auf die – unstrittigen – Potenziale und Möglichkeiten der Digitalisierung. Die Tatsache, dass die digitale Zahnmedizin zwangsläufig auch Risiken und ethische Herausforderungen mit sich bringt, wird dagegen deutlich seltener diskutiert. Genau diese Herausforderungen sind Gegenstand dieses Beitrages, der nicht als Kritik an der digitalen Zahnmedizin zu verstehen ist, sondern lediglich die Perspektive auf das Thema erweitern möchte.


Verantwortung für digitale Patientendaten

Die augenfälligste Herausforderung digitaler Technik ist der Umgang mit großen (personenbezogenen) Datenmengen, der häufig auch unter dem Schlagwort „big data“ firmiert. Betroffen sind hier alle drei Hauptbereiche des Datenmanagements: die Datenspeicherung (datastoring), der Datenzugriff (data sharing) und die Datennutzung (data using).

Je mehr Daten generiert werden, desto komplexer ist die Situation und desto größer ist damit auch die Verantwortung des einzelnen Zahnarztes gegenüber seinen Patienten. Hinzu kommt bei digitalen Daten die Anfälligkeit für Fälschungen (data manipulation): Digitale Daten könnten leichter – und unmerklicher – manipuliert werden als analoge Daten. Beispiele hierfür liefern digitale Zahnröntgenbilder: Selbst Spezialisten fällt es oft schwer, gefälschte digitale Bilder zu identifizieren. So untersuchten Díaz-Flores-García et al. 2017 genau diese Fragestellung und kamen dabei zu dem Ergebnis, dass manipulierte Bilder nur in 56% der Fälle korrekt erkannt werden konnten; andere Autoren kamen zu ähnlichen Ergebnissen [1,2].


Risiken für die Zahnarzt-Patienten-Beziehung

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Jedes technische System ist nur so gut wie sein Anwender. Gerade die digitale Technik, die ständigen Aktualisierungen und Veränderungen unterliegt, erfordert eine umfassende und fortgesetzte Lernbereitschaft des Anwenders. Das heute erworbene digitale Wissen ist morgen bereits obsolet und trägt somit ein Verfallsdatum in sich. Mit anderen Worten: Es genügt nicht, eine neue Technologie zu kaufen – man muss sie auch beherrschen und die Technik sowie das eigene Wissen regelmäßig updaten, um beides adäquat, d.h. zum Wohle des Patienten, einsetzen zu können.

Doch die Digitalisierung birgt auch in anderer Hinsicht Risiken für die Beziehung zwischen Zahnarzt und Patient: Die traditionelle Zweierbeziehung ist durch die Integration technischer Systeme in die Patientenversorgung indirekter und mittelbarer geworden. Entsprechend schwieriger ist es für Zahnärzte, das erforderliche Vertrauensverhältnis zum Patienten – die entscheidende Voraussetzung einer jeden erfolgreichen therapeutischen Beziehung – zu etablieren und aufrechtzuerhalten.


Eine weitere ethische Herausforderung ist die Frage der Verantwortlichkeit in komplexen Systemen: Viele Menschen sind an der Entwicklung, Operationalisierung und Anwendung von digitalen Systemen beteiligt. Solange die Technologie reibungslos und fehlerfrei funktioniert, gibt es keine Probleme. Kommt es jedoch zu Fehlern, stellt sich die Frage, wer dafür verantwortlich ist. In komplexen Mensch-Maschine-Systemen mit vielen beteiligten Akteuren – von den Technikentwicklern über Sicherheitsprüfer und Technikinstrukteure bis hin zu den Anwendern – ist es zunehmend schwierig, einer konkreten Person Verantwortung zuzuweisen. Diese Situation wird auch als „Verantwortungsdiffusion“ bezeichnet. Deshalb erfordert jede technische Anwendung sowohl technischen Sachverstand als auch besondere Aufmerksamkeit: Zahnärzte oder Fachkräfte, die sich blind auf Technik verlassen, gehen demgegenüber Risiken für ihre Patienten und sich selbst ein.

Außerdem liefern digitale Technologien – z.B. digitale Bildgebung – weitaus häufiger als in der analogen Medizin sogenannte Zufallsbefunde (incidental findings), d.h. Befunde, nach denen man eigentlich gar nicht gesucht hat. Auch hier stellen sich ethische Fragen: Etwa, wie mit diesen Befunden umzugehen ist, unter welchen Voraussetzungen man den Patienten darüber aufklärt bzw. wie dem Patienten ein „Recht auf Nichtwissen“ eingeräumt werden kann und wie sichergestellt wird, dass solche Zufallsbefunde nicht zu Überbehandlungen führen.


Digitalisierung verändert medizinische Berufsfelder

Ein weiteres Problem zeigt sich in der Sorge, dass die neuen digitalen Möglichkeiten zu grundlegenden Veränderungen im Berufsbild und zum Jobverlust führen könnten – insbesondere bei zahnmedizinischen Fachangestellten und Zahntechnikern. Besonders häufig wird darauf hingewiesen, dass die CAD/CAM-Technologie und andere Chairside-Systeme zu einem Abbau von Arbeitsplätzen im Dentallaborbereich führen; auch das Outsourcing von Teilbereichen wird als befürchtete Folge der Digitalisierung beschrieben. Tatsächlich ist die Zahl der kleinen Dentallabore seit vielen Jahren rückläufig, während die der großen Labore seit 2011 um 30% gestiegen ist; letztere können sich oft eher notwendige, aber eben auch kostenintensive Technisierungen leisten. Heute erwirtschaften 10% der Labore rund 50% des Branchenumsatzes. Auch die Größe der Zahnarztpraxen nimmt seit einigen Jahren kontinuierlich zu.


Klassische Methoden der Evidenzfindung hinken hinterher

Ein weiteres Problem zeigt sich in der Frage der klinischen Evidenz: Anders als bei Medikamentenentwicklungen liegt bei der Markteinführung neuer digitaler Technologien oft nur wenig klinische Evidenz vor. Umfangreiche klinische Studien werden meist erst nach der Marktreife eines technischen Produktes durchgeführt. Doch selbst wenn nach einer gewissen Zeit entsprechende Studien vorliegen, ist deren Relevanz de facto nicht selten begrenzt: Beim Abschluss derartiger Studien ist eine bestimmte Technologie – z.B. ein computergestütztes Implantatsystem – in der untersuchten Form oft schon nicht mehr auf dem Markt und wurde bereits durch ein (wiederum nicht auf Evidenz geprüftes) Folgeprodukt ersetzt, was sich mit immer kürzeren Entwicklungsund Erneuerungszyklen moderner technischer Produkte erklärt.


Digitale Suffizienz: so viel wie nötig, so wenig wie möglich

Im beschriebenen Szenario verbirgt sich gleich die nächste normative Herausforderung: die Frage der Nachhaltigkeit bzw. des „ökologischen Fußabdrucks“. Das hohe Tempo technischer Innovationszyklen führt dazu, dass Geräte und Infrastrukturen in immer größerer Zahl produziert und freigesetzt werden, welche letztlich alle in ökologisch verantwortlicher Weise entsorgt werden müssen. Vor genau diesem Hintergrund wird mittlerweile das neue Leitbild einer „digitalen Suffizienz“ beschworen – getreu dem Motto: So viele digitale Gerätschaften und Systeme wie nötig, aber eben auch so wenige wie möglich.


Besondere Problembereiche: Kostenfalle und Overtreatment

Damit kommen wir nun zu den ethischen Herausforderungen, die in diesem Beitrag vertieft diskutiert werden sollen: Kostenaspekte und die Frage der Überversorgung. Digitale Technologien gelten im Allgemeinen als hocheffizient. Befürworter der Digitalisierung verweisen oft darauf, dass diese erhebliche Einsparpotenziale biete sowohl in Bezug auf den Zeitaufwand (im Vergleich zum konventionellen Vorgehen) als auch in Bezug auf die finanziellen Kosten. Die Praxis zeigt jedoch, dass die fortgesetzte Steigerung der „Effizienzpotenziale“ und die Suche nach erweiterten und verbesserten Einsatzmöglichkeiten derartiger Technologie zu immer neuen Geräten, zu Weiterentwicklungen bestehender Systeme und/oder zu regelmäßigen Updates führt. Diese bedeuten ihrerseits neues Wachstum und neue Investitionen. Beide Effekte heben so letztlich das der Technik ursprünglich zugeschriebene (und erhoffte) Einsparpotenzial wieder auf. Insofern erscheint es nicht realistisch, die Digitalisierung als Instrument zur Kostensenkung dank verbesserter Effizienz zu betrachten – auch wenn dieses Argument immer wieder angeführt wird. Eher schon wird eine „Konsumspirale“ in Gang gesetzt, die durch die Suche nach weiteren Effizienzpotenzialen und eine damit einhergehende anhaltende bzw. steigende Nachfrage gekennzeichnet ist.

Hinzu kommt ein weiterer Effekt: Große Investitionen in die Digitalisierung einer Praxis erfordern in der Folge den hochfrequenten Einsatz der neuen Technologien, um die angefallenen Kosten zu amortisieren – ein Aspekt, der auch als „Amortisationsfalle“ bezeichnet wird. Der gefühlte Amortisationsbedarf wiederum erhöht das Risiko von Überdiagnosen (overdiagnosis) und Überbehandlungen (overtreatment) am Patienten. Mit anderen Worten: Der Refinanzierungsbedarf kann dazu führen, dass die medizinische Indikation für den Einsatz eines angeschafften technologischen Hilfsmittels „überdehnt“ wird. Überdiagnosen und Überbehandlungen schaden dem Patienten in medizinischer und der Versichertengemeinschaft in finanzieller Hinsicht und stellen daher ein erhebliches ethisches Problem dar.


Sinnhaftigkeit der digitalen Anwendung im Einzelfall überdenken

Darüber hinaus birgt die fortgesetzte technische Aufrüstung die Gefahr einer Verschiebung des diagnostischen bzw. therapeutischen Standards, eines „shift of standard“. Damit ist gemeint, dass bestimmte technische Verfahren vornehmlich deshalb eingesetzt werden, weil sie verfügbar sind bzw. weil ein erheblicher Teil der Praxen sie angeschafft hat – unabhängig von der Frage, ob sie tatsächlich einen Mehrwert bieten. Und da sie verfügbar sind und somit vermehrt eingesetzt werden, werden sie als neuer Standard wahrgenommen und verschieben zugleich den bisherigen Standard.

Als Anschauungsbeispiel kann die computernavigierte Implantation dienen: Wir wissen, dass diese in einigen Fällen nützlich ist. Wir wissen aber auch, dass es viele Fälle gibt, für die dies nicht gilt. Die bloße Tatsache, dass eine solche computernavigierte Implantation zunehmend verfügbar ist (und ihre Anschaffung erhebliche Kosten verursacht), sollte sie nicht zu einem therapeutischen Standard bzw. zu einer faktischen Notwendigkeit machen. Mit anderen Worten: Der Einsatz einer jeden Technologie muss sich an der medizinischen Indikation – ihrer medizinischen Sinnhaftigkeit – orientieren und nicht an Aspekten wie Verfügbarkeit oder Amortisationsbedarf.


Fazit

Alle oben genannten Beispiele zeigen, wie herausfordernd es ist, neue technische Möglichkeiten mit ethischen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Doch ebendiese Abwägung ist erforderlich. Hilfreiche Kriterien hierfür sind die medizinische Sinnhaftigkeit, das Patientenwohl und die wirtschaftliche Vertretbarkeit.


[Februar 2021] Zahnheilkunde Management Kultur ZMK ; Autor: Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß


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